Mitgegeben auf den Weg

17. Mai 2023
Pastor Christian Nickel

„Wir bitten die Verspätung zu entschuldigen“, dröhnt es aus dem Lautsprecher. Seine sonore Stimme kennen alle, die in Deutschland mit dem Zug fahren. Die Deutsche Bahn hat vor einiger Zeit alle Ansagen im Bahnverkehr vereinheitlicht und die bekannten Texte von einem professionellen Sprecher einsprechen lassen. Ich vermute, dass seitdem kein Mensch häufiger „zu spät“ sagt.

„Zu spät“, ihre Augen erzählen mir von ihrer Enttäuschung. Ich bin selten zu spät. Pünktlichkeit sei Höflichkeit, brachten mir meine Eltern bei. Und trotzdem passiert es mir regelmäßig: Ich klingele zu spät an der Tür meiner Verabredung, ich antworte zu spät auf Mails und Nachrichten, ich nehme einen Menschen in meinem Umfeld zu spät wahr.

„Zu spät“ sagt der Engel zu den Frauen. Hell glänzt sein Gewand, das Licht spiegelt sich in ihren Tränen. Sie wissen nicht, wie ihnen geschieht. Die Frauen wollten zum Grab von Jesus, wollten trauern und weinen. Und jetzt sagt der Engel einfach so: „Zu spät. Der, den ihr sucht, der ist nicht hier“. Kein Jesus, kein Leichnam, nur ein leeres Grab. Auf einmal ist alles anders. Ihre Herzen beginnen zu rasen, alle Tränen weg, das Licht wird immer Heller. Der Engel setzt nach und fasst ihre noch stille Hoffnung in Worte: „Jesus ist wahrhaftig auferstanden.“ (Evangelium nach Matthäus 28)

In der Dramatik dieser Szene steckt himmlischer Humor: Die, die zu spät kommen, sind die ersten. Die Frauen sind zu spät und hören als erste von dem Sieg über den Tod. Jesus lebt. Ich muss schmunzeln, wenn ich mir den Engel, die Frau und diese große Lücke, das leere Grab, vorstelle. Mir macht das Hoffnung. Obwohl ich mich um Pünktlichkeit bemühe, werde ich trotzdem immer wieder zu spät kommen. Beim großen Auftritt von Jesus stehen die Zuspätkommer in der ersten Reihe. Und ich reihe mich zwischen ihnen ein.

P Christian Nickel, Dorfmark & Kirchenkreis

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