„Wieder so eine verrückte Idee!“, dachte ich, als wir Teilnehmer an einem Workshop auf dem Evangelischen Kirchentag aufgefordert wurden, für eine Minute still zu sein. Unsere „Gegenwart“ sollten wir spüren. „Jetzt ist die Zeit“ war das Motto in Nürnberg. Dieses persönliche „Jetzt“ schweigend wahrnehmen war etwas befremdlich, eher hätte ich eine Aufforderung zum stillen Gebet erwartet. Und ganz so weit weg davon war diese „himmlische Stille“ auch nicht. 200 Menschen, die still ihre Zeit bedachten oder zur Ruhe kommen konnten, nach einer hektischen Ankunft am Morgen, das war ein beeindruckendes Erlebnis. Je häufiger ich dieses gemeinschaftliche Schweigen erlebte, desto sinnvoller erschein es mir. Die Frage „Was ist jetzt für mich an der Zeit?“, ging mir durch den Kopf. In den Veranstaltungen dieses Kirchentages wurde mir deutlich, wie unausweichlich mich das „Jetzt“ bedrängt. Ich weiß von den Folgen des Klimawandels und seinen aktuellen Auswirkungen, ich spüre, wie sich unser Zusammenleben als Gesellschaft durch die sozialen Medien massiv radikalisiert, ja, auch das gegenseitige Töten im Krieg ist Gegenwart, die ich eigentlich nicht wahrhaben will. Was ich jahrelang kommen sehen habe, geahnt oder mehr oder weniger gespürt haben, es ist jetzt da! Ein Wegducken funktioniert nicht mehr und ein Verschieben auf später auch nicht. Die Diskussionen und Vorträge kreisten um diese Fragen. Nein, es war kein verbissenes beharren auf Positionen, eher ein gemeinsames Ringen um Antworten und ein Verstehen des Gegenübers. Durchgängig war der Aufruf nach einem „Wir sind dran, fangt endlich an!“ Die Antworten darauf waren bunt, schrill und manchmal gewagt bis befremdlich. Eines aber waren sie nicht, nämlich hoffnungslos oder lähmend. Im Stillen dachte ich: Etwas verrückt ist das schon, aber warum nicht? Es ist an der Zeit.
Herbert Seevers, Pastor in Walsrode