„Gedanken zur Zeit"

Nachricht 23. Juni 2016
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Pastor Bernd Piorunek

„Haltet euch nicht selbst für klug!“ Diese Mahnung des Apostels Paulus aus dem Römerbrief (Kapitel 12, Vers 16) ist mir erst vor kurzem mehrmals begegnet. Und ich muss gestehen, dass sie mich auf den ersten Blick gestört hat. Was bildet der sich ein, mir so etwas zu raten? Klug zu sein ist doch schließlich eine gute Sache! Von dem Verstand Gebrauch zu machen, den Gott uns Menschen
geschenkt hat – ist das nicht unser gutes Recht, ja mehr noch: unsere Pflicht? Und auf das, was wir dank unserer Intelligenz erreicht haben, dürfen wir doch wohl stolz sein! Warum werden wir dann ermahnt: „Haltet euch nicht selbst für klug“?
Auf den zweiten Blick ist da natürlich etwas dran. Wir alle kennen Menschen, die sich selbst für wer weiß wie schlau halten, ohne es wirklich zu sein. Wie peinlich ist das! Und wie unangenehm ist der Umgang mit solchen Leuten, die immer alles besser zu wissen meinen, auch wenn sie keine Ah nung haben. Mit denen kann man gar nicht vernünftig reden, denn sie lassen nichts anderes gelten als ihre eigene Meinung. Denen – so soll man meinen – könnte es natürlich nicht schaden, mal in die Bibel zu schauen und sich eines besseren belehren zu lassen.
Auf den dritten Blick kann es aber auch uns selbst gut tun, unsere geistigen Fähigkeiten mit einer gewissen Demut zu betrachten. Schon der – nun wirklich kluge – Philosoph Sokrates soll gesagt ha ben: „Ich weiß, dass ich nichts weiß.“ Und gerade dieser Satz wurde für ihn zum Ausgangspunkt der Weisheit. Denn gerade das Wissen um die eigene Unwissenheit ermöglicht es, Neues zu lernen. Es schafft Raum für Neugierde und Entdeckergeist. Es gibt uns die Offenheit, um sich von bisher unbedachten Argumenten überzeugen zu lassen. Daraus erwächst die Fähigkeit, sich weiterzuentwi ckeln. All das also, was uns fehlt, wenn wir uns selbst schon für allzu klug halten.
Wenn wir bedenken, wie viel von der Schlechtigkeit der Welt daher kommt, das Menschen sich einbilden, die alleinige Wahrheit zu kennen und in einem geschlossenen Weltbild zu Gefangenen ihrer eigenen Gedanken werden, von totalitären Gesellschaftsexperimenten wie dem Faschismus oder Kommunismus bis hin zur grausamen Barbarei des IS und anderer religiöser Extremisten, dann liegt große Weisheit darin, wenn wir – gerade von Seiten der Religion! – gesagt bekommen: „Haltet euch nicht selbst für klug!“ Denn wenn wir uns klarmachen, wie klein und vorläufig, wie sehr kulturell und zeitlich bedingt der Erfolg unser geistigen Bemühungen ist, dann sind wir in der Lage, über den eigenen Tellerrand hinauszuschauen und unseren Horizont zu erweitern. Dann können wir auch die Gedanken der anderen neben den eigenen  gelten lassen und vielleicht sogar von ihnen lernen. Wenn wir uns, wie Paulus uns rät, nicht selbst für klug halten, haben wir die Chance, wirklich klug zu werden.

Pastor Bernd Piorunek, Düshorn-Ostenholz

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