„Gedanken zur Zeit"

Nachricht 12. März 2017

Das verlorene Wort

Aus den Augenwinkeln hat die Mutter mitbekommen, wie ihre 5-jährige Sina ihrem jüngeren Bruder mit dem Bauklotz eins übergezogen hat. Der heult jetzt. Die Mutter nimmt ihre Tochter bei den Armen, sieht ihr ernst in die Augen und sagt: „Entschuldige Dich!“ - „Kai wollte mir ja meine Puppe nicht wiedergeben!“ sagt Sina grollend. „Deswegen darfst du ihn doch noch lange nicht schlagen! Also? Was ist dran?!“ – Sina sieht betreten zu Boden. Schließlich sagt sie „Ich hab das Wort verloren!“ So klein Sina auch ist – sie scheint die große Schwierigkeit schon zu erkennen, die mit dem Wort „Entschuldigung“ verbunden ist. Damit würde sie nämlich gleich drei Dinge anerkennen: 1. Was Kai getan hat, das rechtfertigt ihr Verhalten nicht. 2. Damit aber ist sie selbst schuldig geworden. Das anzuerkenen, das verletzt ihr Selbstwertgefühl! Das tut mehr weh, als hätte sie sich an der Tischkante gestoßen! 3. Und: Spricht sie das ‚Zauberwort’, so sagt sie ja auch, dass sie ihr Fehlverhalten bereut und dass sie verspricht, so etwas nicht wieder zu tun. Aber würde das nicht auch einschließen, sie sich gegen das Unrecht, das ihr Kai voraussichtlich noch antun wird, nicht mehr wird wehren dürfen?! Die Mutter aber läßt sie noch immer nicht los. „Tschuldigung!“ brummt Sina schließlich, um endlich freizukommen, aber ohne hochzusehen oder gar Kai ins verheulte Gesicht zu schauen. „Danke!“ sagt zärtlich die Mutter. Aber mit diesem Schritt ist die Sache leider noch nicht vorbei. Denn nun ist Kai dran. Die Mutter macht ihn darauf aufmerksam: „Nimmst Du die Entschuldigung an?“ Jetzt druckst auch er herum. Der Schmerz und die Wut bestimmen immer noch sein Gefühl für Sina. Soll jetzt etwa alles in Ordnung sein?! Und kann er sicher sein, dass die Entschuldigung wirklich echt ist? Aber er spürt auch: Jetzt muss er etwas tun, damit es wieder heil und friedlich in der Familie werden kann. Denn wenn er die Entschuldigung nicht annimmt oder gar auf Rache sinnt, wird der Schaden ja nur noch schlimmer. Und irgendwie spürt Kai auch, dass er selbst schuldig wird, wenn er nun nicht mit dem Kopf nickt. So tut er es zaghaft, ohne in Sinas Richtung zu sehen. Die Mutter nimmt ihn in den Arm, verlangt aber nicht von ihren Beiden, dass sie sich nun zum Zeichen der Versöhnung die Hand reichen. Das wäre ein Schritt zu weit.
Eine kleine, alltägliche Geschichte ist dies, fast lächerlich. Aber jeder weiß, wie viel Beziehungen zerbrochen sind, welche Verhängnisse unter uns Menschen ihren Lauf genommen haben, weil Menschen die Worte „Entschuldigung“ und „Angenommen!“ verloren haben. Versöhnung ist ja auch keine leichte Sache. Aber sie ist das einzige Tor, um wieder unbeschwert miteinander lachen zu können. Mehr noch: Mit ihr steht unsere Menschlichkeit auf dem Spiel. Deswegen hat Jesus, der auch zu Recht als „unser Heiland“ bezeichnet wird, uns die Versöhnung so sehr ans Herz gelegt. (Nachzulesen in der Bergpredigt, Matthäus 5, 23 und 24) Es lohnt sich, das zu beherzigen und dafür nichts unversucht zu lassen. Denn dann kann es unter uns Menschen versöhnlicher zugehen und heller werden. Diese Erfahrung wünsche ich uns allen, besonders jedem, der gerade unter verletzten Beziehungen leidet.

Ihr Helmut Schöfer, Pastor i.R.

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