„Gedanken zur Zeit"

Nachricht 30. Juli 2017

Stummfilm

Erinnern Sie sich? Sie stehen vor einem Telefonhäuschen und müssen endlos lange warten. Handys gab’s noch nicht und für Urlauber nur dieses Telefon. Unruhig blicken Sie auf die Gestalt in der Zelle, sehen, wie sie sich bewegt, spricht, gestikuliert, aber hören können Sie nichts. Denn die Unbekannte befindet sich ja eingekapselt hinter einer Glaswand, eingepfercht wie in einem Aquarium. Plötzlich durchfährt es Sie: So wie ich jetzt erleben Taubstumme und auch schwerst Hörgeschädigte ihre Umwelt, immer! Wie einen Stummfilm, eine gestenreiche Pantomime.
Neugierig geworden, suchte ich herauszufinden, wie viel ich wohl an den Bewegungen der telefonierenden Person ablesen könnte. Hatte sie eine Verbindung bekommen? War’s ein wichtiges, ein aufgeregtes Gespräch oder ein belangloser Plausch? War sie ärgerlich oder verliebt? Telefonierte sie mit einem Kind?
Ich war erstaunt, wie viel ich zu erraten glaubte. Als sich die Zellentür nach längerem Warten öffnete, sagte die heraustretende Person: „Danke, dass Sie so viel Geduld hatten!“ Ich war verblüfft, denn Geduld war‘s ja nicht, die mich so ergeben ausharren ließ – ich hatte etwas in Erfahrung bringen wollen. Später, als ich dann selbst in der Zelle stand, dachte ich unwillkürlich: Was liest jemand, der nun draußen wartet an meinen Bewegungen ab und was ich an seinen? Ich machte eine grüßende Bewegung, der andere lächelte zurück. Taubstumme? Geradezu ehrfürchtig, fast demütig denke ich an sie.

Friedrich-Wilhelm Stock, Superintendent i.R.

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