Gedanken zur Zeit

11. Juli 2018

Der Engel des Verzichts

Um mich herum wurde es immer ruhiger. Die meisten Mitreisenden hatten längst ihre Koffer in Empfang genommen und den Flughafen verlassen. Schließlich wurde es still - das Gepäckband hatte seinen Betrieb eingestellt und mir wurde klar: Ich war hier ohne meinen Koffer gelandet. In Gedanken ging ich durch, worauf ich nun verzichten musste - und ärgerte mich, dass ich nicht wenigstens das Nötigste im Handgepäck hatte. In den ersten Tagen setzte ich alles daran, den Koffer zurück zu bekommen. Ich telefonierte mit Flughafen und Fluggesellschaft, redete mit dem Mann am Schalter. Der Koffer war trotzdem nicht aufzufinden. Irgendwann beschloss ich, das Ganze anders zu sehen und mich auf die ungeplante Situation einzulassen. Von da an staunte ich darüber, wie wenig ich eigentlich brauche. Dankbar nahm ich an, was meine Mitreisenden mir aushilfsweise zur Verfügung stellten. Mit leichtem Gepäck und irgendwie befreit war ich nun unterwegs. Es wurde ein ganz besonderer Urlaub.
Ich glaube, auf dieser Reise bin ich dem Engel des Verzichts begegnet. Die Autorin Susanne Niemeyer hat ihn so beschrieben: „Der Engel des Verzichts hat Flügel. Entgegen landläufiger Meinung ist er der Vergnügteste von allen. Er ist leichtfüßig. Seine Koffer hat er unterwegs verloren. Er weiß nichts besser. Was er sagen wollte, hat er vergessen. Den Eiligen lässt er den Vortritt. Den Ehrgeizigen räumt er den Weg. Der Engel des Verzichts nimmt niemandem etwas weg. Auch keine Illusion. Er ist frei. Nicht mal an der Freiheit hält er fest.“

Silke Meisner, Pastorin in der Klinik Fallingbostel

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