Gedanken zur Zeit

04. Dezember 2019
Pastor Christian Nickel

„Wissen Sie, mich gibt es gar nicht.“, sagt er und schaut mich mit großen Augen an. „Rote Mütze und Jacke, lederner Gürtel und schwarze Stiefel hatte ich nie an. Schneeweißer Rauschebart und gemütlicher Bauch passen überhaupt nicht zu mir. Ich habe keine Rute, keinen Schlitten, keinen Mitarbeiter namens ‚Ruprecht’.
Jede Zeit hat ihren Heiligen und ich bin von Anfang an dabei. Mal als mildtätiger Bischof von Myra, mal als Werbefigur eines Softgetränks. Eine spätere Version von mir wohnt in Himmelpforten und beschert dem dortigen Postamt jährlich Tonnen an Wunschzetteln. Die einen verehren mich als Retter in Seenot, die anderen hoffen darauf, dass ich reichlich Geschenke durch den Schornstein fallen lasse.
Nicht einmal meinen Namen haben sie behalten. Auf Deutsch heißt er so viel wie ‚Volksheld’. Diesen Spitznamen haben mir die Leute schon ganz früh verpasst. Bald war mein richtiger vergessen.“
Ich denke mir: „Er ist wohl das Chamäleon unter den Heiligen. Er wechselt sein Äußeres, seine Farbe, seinen Klang und Geschmack je nach Wunsch der Zeit. Martin Luther konnte die übertriebene Verehrung um ihn nicht leiden, seitdem wird bei uns am Heiligen Abend geschenkt. Ich mag ihn, er ist mein Lieblingsheiliger.“
Ein breites Lächeln zieht sich durch sein dünnes, schwarzes Gesicht. „Mir ist das alles egal. Am Ende bleibt nur eins: Meine Geschichte bewirkt, dass die Leute sich etwas Gutes tun“, sagt er. Er erhebt sein Glas und trinkt mit einem großen Schluck die Coca-Cola aus. Kohlensäure blubbert in seiner Nase. Jetzt freue ich mich erst Recht auf den Nikolaustag.

Pastor Christian Nickel, Ev.-luth. Paulus-Kirchengemeinde Bomlitz

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