Gedanken zur Zeit

22. Januar 2020

Wie wunderbar, wieder besser hören zu können. Nicht, dass ich nichts mehr gehört hätte. Jedoch: wo leiser gesprochen wurde, fehlten mir oft die Worte. Ein entrüstetes „Ich habe mich wohl verhört“ wagte ich nicht. Die gewisse Komik des Verhörens war auch nicht mehr zur Stelle – nichts mit „Morgen früh, wenn Gott will, wirst du wieder gewürgt“. Denn „Kannitverstan“ – das ärgert einen selbst, ist peinlich, isoliert. Die Jüngeren mochten nicht zu Laut-Sprechern werden. Verständlich – oder? Hörgeräte also. Klein, kaum sichtbar – machte das den Entschluss leichter? Wie wunderbar, wieder besser hören zu können: die Vogelstimmen im Garten, dann, weit entfernt, den Augen längst nicht sichtbar, die Rufe des Vogelzuges. Wie es auf dem Waldboden unter den Schritten klingt: Knirschen, Knacken, Rascheln. Hören verbindet sich dem Sehen und den Erinnerungen. Neulich las ich in Alexander von Humboldts „Das nächtliche Thierleben im Urwalde“. Humboldt – einer der aufmerksam Sehenden, Hörenden, Wahrnehmenden, Entdeckenden. „Die größeren Tiere verbergen sich dann in das Dickicht der Wälder, die Vögel unter das Laub der Bäume oder in die Klüfte der Felsen; aber lauscht man bei dieser scheinbaren Stille der Natur auf die schwächsten Töne, die uns zukommen, so vernimmt man ein dumpfes Geräusch, ein
Schwirren und Sumsen der Insekten, dem Boden nahe und in den unteren Schichten des Luftkreises. Alles verkündigt eine Welt tätiger, organischer Kräfte. In jedem Strauche, in der gespaltenen Rinde des Baumes, … regt sich hörbar das Leben. Es ist wie eine der vielen Stimmen der Natur, vernehmbar dem frommen, empfänglichen Gemüte des Menschen.“ Humboldts Entdeckung vor: Alles ist Wechselwirkung! Zwei Jahrhunderte später – habe ich mich verhört?: „Die Welt ist in Gefahr und wir müssen sofort handeln, um zu überleben.“

Werner Schäfer, Pastor em., Walsrode

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