Gedanken zur Zeit

11. März 2020

Hinsehen und Aushalten

„Jetzt reiß dich zusammen und stell dich mal nicht so an! So schlimm ist es doch auch wieder nicht!“ Fast jeder hat solch oder einen ähnlichen Satz schon zu hören bekommen. Als Kind, vielleicht auch als Erwachsener. Sätze, durch die wir lernen, unsere Tränen herunterzuschlucken und unsere Schmerzen beiseite zu schieben.
In unserer Gesellschaft gehört das Leid eher hinter verschlossene Türen, in den Privatbereich oder in speziell dafür geschaffene Einrichtungen. In der Öffentlichkeit sind Tränen oder Schreie unerwünscht. Es ist ja auch schwer auszuhalten, was einem anderen Menschen das Herz und das Leben schwer macht. Und doch: Wenn wir das, was uns und andere belastet, lieber beiseiteschieben als uns damit auseinanderzusetzen, so bleibt jeder damit letztlich allein.
Da sind wir lieber zurückhaltend, mit dem was uns schwer auf der Seele liegt. Wir befürchten, abgespeist zu werden mit Sätzen wie: „Kopf hoch, das wird schon wieder“ oder „Unkraut vergeht nicht“. Wir schweigen aus Angst und somit wird uns die Erfahrung verwehrt, dass geteiltes Leid halbes Leid ist.
In diesen Wochen vor Ostern begleiten wir Jesus auf dem Weg nach Jerusalem und können in Gottesdiensten und Andachten bewusst an seine Leidensgeschichte denken.
Für mich hat das den Sinn, Hinsehen und Aushalten einzuüben. Ich erfahre, ich habe die Kraft, auch Leid anzuschauen und standzuhalten. Und ich bin damit nicht allein. Menschen sind an meiner Seite und Gott selbst geht mit uns. Auch auf den schweren Wegen bleibt er da.
Das gibt mir Mut, meinen eigenen Kummer anzuschauen. Und es hilft mir, auch die Leidensgeschichten anderer wahrzunehmen, und nach meinen Möglichkeiten ihre Last mit ihnen zu teilen.

Uwe Gaudszuhn, Pastor i. R.

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